Archiv der Kategorie: Straßenverkehrsrecht

OLG München, Az. 10 W 1789/10 Prüfungsfrist der Haftpflichtversicherung

 

OBERLANDESGERICHT MÜNCHEN

Aktenzeichen: 10 W 1789/10
1 0 1030/09 LG Passau

In dem Rechtsstreit

– Klägerin und Beschwerdegegnerin –

gegen

1.

2.

– Beklagte und Beschwerdeführer –

wegen Schadensersatzes;

hier: sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung

erläßt der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht … als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung am 29.07.2010 folgenden

Beschluß:

1. Die sofortige Beschwerde der Beklagten vom 11.05.2010 gegen die Kostenentscheidung im Endurteil des LG Passau vom 29.04.2010 (Az. 1 O 1030/09) wird zurückgewiesen.

2. Die Beschwerdeführer haben samtverbindlich die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

3. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren beträgt 2.731,80 €.

4. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Hinsichtlich des Verfahrensgangs bis zum Endurteil und den der angefochtenen Kostenentscheidung zugrundeliegenden Erwägungen des Erstgerichts wird auf das Endurteil des LG Passau vom 29.04.2010 (Bl. 35/41 d.A.) Bezug genommen.

Gegen das den Beklagten am 03.05.2010 zugestellte Urteil legten diese mit Schriftsatz vom 11.05.2010 (Bl. 44/49 d.A.), beim LG Passau am 12.05.2010 eingegangen, sofortige Beschwerde ein, soweit ihnen darin die Tragung der Kosten des Rechtsstreits auferlegt worden war. Die Klägerin nahm hierzu im Schriftsatz vom 26.05.2010 (Bl. 54/55 d.A.) Stellung. Mit Beschluß vom 23.07.2010 (Bl. 61 d.A.), den Parteien am selben Tag formlos bekanntgemacht, half das Erstgericht der sofortigen Beschwerde nicht ab, wobei es sich auf die angefochtene Entscheidung bezog und lediglich ergänzend darauf hinwies, daß die Zweitbeklagte vorprozessual keine Originalfotos angefordert hatte.

II.

Die gem. § 567 I Nr. 1 ZPO i. Verb. m. § 91 a II 1 ZPO statthafte und auch im übrigen zulässige sofortige Beschwerde ist unbegründet. Die Beschwerdeführer befanden sich im Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses (Erfüllung der klägerischen Schadensersatzforderung) im Verzug und hatten Anlaß zur Klageerhebung gegeben,

a) Schon der rechtliche Ausgangspunkt der Argumentation der Beschwerdeführer, die Beschwerdeführerin zu 2) habe einen Prüfzeitraum vor der Regulierung eines Unfalls von „in der Regel 4-6 Wochen”, der „bei weiterem Aufklärungs- und Rücksprachebedarf auch höher anzusetzen” sei (Beschwerdebegründung unter I 1) oder gar eine Prüffrist von „grundsätzlich 6 Wochen” (so im Schriftsatz vom 12.03.2010 (S. 2 = Bl. 26 d.A. unter 2 lit. a) ist fehlsam.

aa) Die Dauer der Prüffrist (vgl. § 14 I WG n.F.) wird in der Rechtsprechung unterschiedlich angesetzt, von 2 Wochen AG Erlangen (DAR 2005, 690) über mindestens 2-3 Wochen (OLG Saarbrücken MDR 2007, 1190= OLGR 2007, 441 = SP 2008, 51; OLG Düsseldorf NJW-RR 2008, 114 = OLGR 2008, 197 = NZV 2008, 151 = DAR 2007, 611; LG München I zfs 1984, 367: mindestens 12-15 Arbeitstage), 3 Wochen (LG München I VersR 1973, 871; LG Düsseldorf VersR 1981, 582 [583]; LG Bielefeld zfs 1988, 282; im Ergebnis auch OLG München [24. ZS] VersR 1979, 479), etwa 1 Monat (OLG Frankfurt a.M. OLGR 1996, 77) bis hin zu 4-6 Wochen (OLG Rostock OLG-NL 2001, 92; KG VersR 2009, 1262; OLG Dresden, Beschl. v. 29.06.2009 – 7 U 499/09 [Juris, dort Rz. 14] = NZV 2009, 604 [nur Ls.]; OLG Saarbrücken, Beschl. 09.02.2010 – 4 W 26/10 – 03 [Juris] ohne jede Auseinandersetzung mit dem Meinungsstand).

Nach Ansicht des Senats ist mit der h. M. davon auszugehen, daß die Dauer der Prüffrist von der Lage des Einzelfalls abhängig ist, in der Regel aber maximal 4 Wochen beträgt (vgl. in dieser Richtung OLG München [24. ZS] VersR 1979, 479; Senat, Urt. v. 21.06.2010 – 10 U 5028/09). Dabei ist auch der technische Fortschritt in der Schadensbearbeitung zu berücksichtigen, weshalb auch deutlich kürzere Fristen zu erwägen sind (vgl. OLG Saarbrücken MDR 2007, 1190 = OLGR 2007, 441 = SP 2008, 51: 2 Wochen; OLG Düsseldorf NJW-RR 2008, 114 = OLGR 2008, 197 = NZV 2008, 151 = DAR 2007, 611: 3 Wochen); daß die Haftpflichtversicherungen über einen „größeren Büroapparat verfügten, der „gewisse Mindestverzögerungen zur Folge hat (so OLG Rostock OLG-NL 2001, 92), ist nicht anzuerkennen, weil es sich um ein in der Sphäre des Schuldners angesiedeltes Problem handelt, das nicht auf den Geschädigten abgewälzt werden darf – andernfalls hätte es ein Schuldner in der Hand, sich durch unklare oder schwerfällige Organisationsstrukturen über längere Zeit folgenlos seinen Verpflichtungen zu entziehen.

bb) Die ggf. vom Versicherer als erforderlich angesehene Einsicht in die Ermittlungsakte hat grundsätzlich keinen Einfluß auf die Dauer dieser Prüffrist (und den Eintritt des Verzugs), weil sonst berechtigte Interessen des Geschädigten an einer zügigen Regulierung des Schadens ohne triftigen Grund unberücksichtigt blieben (OLG Saarbrücken NZV 1991, 312 = zfs 1991, 16 = AnwBI. 1991, 343; MDR 2007, 1190 = OLGR 2007, 441 = SP 2008, 51; OLG Dresden, Beschl. v. 29.06.2009 – 7 U 499/09 [Juris, dort Rz. 15] = NZV 2009, 604 [nur Ls.]; a.A. OLG Hamm VersR 1988, 1038 ohne eigenständige Begründung; OLG Frankfurt a.M. VersR 2004, 1595 ohne Auseinandersetzung mit der Gegenmeinung).

Vorliegend wird dies besonders deutlich, wenn die Beschwerdeführerin zu 2) erst mit Schreiben vom 25.06.2009, also rund 1 Monat nach dem Unfall vom 27.05.2009, bei der „Polizei” in Passau um Akteneinsicht bat (Bl. 23 der EA der StA Passau – Az. 310 Js 8428/09), ein Zeitraum, für den es keinen nachvollziehbaren oder gar anerkennenswerten Grund gibt. Auch die weitere Verzögerung in diesem Zusammenhang, nämlich die Bewilligung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft Passau erst am 16.10.2009 kann nicht zu Lasten der Klägerin gehen – es ist gerichtskundig und auch den Versicherern bekannt, daß solche Akteneinsichten oft erst nach Monaten bewilligt werden (so zutreffend OLG Dresden a. a. O.).

cc) Somit ist gegen den vom Erstrichter im vorliegenden Fall als angemessen angesehenen Prüfzeitraum von 3 Wochen aus Rechtsgründen nichts zu erinnern.

b) In tatsächlicher Hinsicht unzutreffend ist sodann die Behauptung der Beschwerdeführer, die Beschwerdeführerin zu 2) habe die „Vorlage aussagekräftiger Lichtbilder im Original erbeten” (Beschwerdebegründung unter I 2 lit. a). Im Schreiben an die Klägervertreter vom 24.10.2009 (Anl. K 4 = B 2) werden nämlich nur Fotos, auf denen die Beschädigungen deutlich zu erkennen sind1 und die Reparaturrechnung im Original angefordert. Die Beschwerdeführerin zu 2) hat dann auch entgegen ihres in der Beschwerdebegründung wiederholten Vortrags ohne die Originalfotos reguliert, worauf die Klägerin im übrigen bereits in ihrer erstinstanzlichen Replik vom 11.02.2010 (S. 2 = Bl. 18 d.A.) zutreffend hingewiesen hat, was angesichts eines entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin zu 2) keineswegs „derart hohen Schadens” von unter 20.000 € in einem nach Aktenlage unproblematischen Fall auch nicht verwunderlich ist, wie der Senat als Spezialsenat für Straßen-, Eisenbahn- und Luftverkehrsunfälle aus eigener Sachkunde feststellen kann.

Unbeschadet der Tatsache, daß das LG Passau über die Gehörsrüge in eigener Zuständigkeit zu entscheiden haben wird, ist im Zusammenhang mit dem von den Beschwerdeführern wiederholt thematisierten Frage der angeblich angeforderten Originallichtbilder unter dem Gesichtspunkt der Richtigkeitskontrolle der angefochtenen Kostenentscheidung festzuhalten, daß sie auch hinsichtlich der Begründungsdichte entgegen der Behauptung der Beschwerdeführer (Beschwerdebegründung unter II) keine Mängel aufweist: Nach § 313 III ZPO sollen die Entscheidungsgründe nur eine „kurze Zusammenfassung” der Erwägungen enthalten, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Ein Gericht braucht deshalb nicht jedes Parteivorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu behandeln (BVerfG RdL 2004, 68 [unter II 1 a]; BGHZ 3, 162 [175]; BGHZ 154, 288 [300 unter II 3 b bb (3)] = NJW 2003, 1943 [1947]; BGH NJOZ 2005, 3387 [3388]; BAG NZA 2005, 652 [653] = MDR 2005, 1008; Senat, Beschl. v. 25.11.2005 – 10 U 2378/05). Allein der Umstand, daß sich die Gründe einer Entscheidung mit einem bestimmten Gesichtspunkt nicht ausdrücklich auseinandersetzen, rechtfertigt daher nicht die Annahme, das Gericht habe diesen Gesichtspunkt bei seiner Entscheidung nicht erwogen. Vielmehr bedarf es hierzu besonderer Umstände (vgl. BVerfG a.a.O.; BGH a.a.O.; BAG a.a.O.; Senat, Beschl. v. 25.11.2005 – 10 U 2378/05 und v. 23.10.2006 – 10 U 3590/06 sowie Urt. v. 06.10.2006 – 10 U 1963/06). Nachdem die behauptete Anforderung von Originallichtbilder keinerlei überprüfbare tatsächliche Grundlage im Beklagtenvortrag hatte, bestand für den Erstrichter keine Veranlassung, sich mit dieser Frage näher auseinanderzusetzen.

c) Wenn man, worauf die Beschwerdeführer im Ausgangspunkt zutreffend abheben, davon ausgeht, daß die Prüffrist erst durch den Zugang eines spezifizierten Anspruchsschreibens in Lauf gesetzt wird (Senat, Urt. v. 21.06.2010 – 10 U 5028/09 m. w. N.), so lief die 3-wöchige Frist vom 20.10.2009, dem Tag des Zugangs der ersten spezifizierten Schadensgeltendmachung vom 19.10.2009 – Anl. B 1) an gerechnet am 10.11.2009 ab (eine Fehlinformation in diesem Schreiben betreffend die Inanspruchnahme der klägerischen Vollkaskoversicherung ist irrelevant, weil das Anspruchsschreiben dadurch nicht unspezifiziert wird und die Beschwerdeführerin auch die zweifelsfrei nicht von der Vollkaskoversicherung erstatteten Schadensposten nicht zeitnah ersetzt hat, worauf die Klägerin in Ihrem Schriftsatz vom 16.03.2010 [Bl. 28 d.A.] zutreffend hingewiesen hat), so daß sich die Beschwerdeführer entgegen dem Beschwerdevortrag (Beschwerdebegründung unter I 3 pr. und lit. a) seit diesem Zeitpunkt, spätestens aber seit dem 12.11.2009 und damit selbstredend sowohl bei Anhängigkeit der Klage (04.12.2009) als auch bei Rechts-hängigkeit (09./10.12.2009) in Verzug befanden und Anlaß zur Klageerhebung gaben (eine Erfüllung der Schadensersatzforderung erfolgte erst in drei Teilbeträgen am 23.12.2009, 15.01.2010 und 18.02.2010).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 I, 100 IV ZPO. Gem. Nr. 1810 KV-GKG beträgt die Gerichtsgebühr 75,- €.

3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 II 1, 47 I 1, 40, 48 I 1 GKG, 3 ff. ZPO.

4. Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür nach § 574 II ZPO nicht gegeben sind. Mit Rücksicht darauf, daß die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.

OLG Koblenz v. 26.01.2004, 12 U 1439/02 Mithaftung beim Überholen einer Kolonne

OLG Koblenz v. 26.01.2004: Haftungsanteil von 2/3 zu Lasten eines Motorradfahrers, der zwei langsam fahrende eingeordnete Pkw überholt, von denen einer links blinkt

Das OLG Koblenz DAR 2005, 403 f. = NZV 2005, 413 f. (Urteil vom 26.01.2004 – 12 U 1439/02) hat die Haftung im Verhältnis 2/3 zu 1/3 zu Lasten eines Kradfahrers verteilt, der zwei Pkw überholte, die beide langsam und zur Mitte eingeordnet fuhren und von denen an einem Fahrzeug das linke Blinklicht eingeschaltet war:

Zum Sachverhalt:: Der Kl. befuhr am 19. 5. 1995, einem Freitag, gegen 17.05 Uhr in T. mit seinem Motorrad Marke BMW 750 die L.-Straße … . Die L. -Straße verläuft an der Unfallstelle gerade. Die etwa 8,20 m breite gepflasterte Fahrbahn war zur Unfallzeit nicht mit einem Mittelstreifen versehen. Vor dem Kl. fuhr der Zeuge D. mit seinem Pkw VW Golf Cabrio (mit geöffnetem Verdeck), davor der Erstbeklagte mit dem Pkw VW Golf, dessen Halterin die Zweitbeklagte und das bei der Drittbeklagten gegen Haftpflicht versichert ist, in dieselbe Richtung. Die Pkws fuhren dicht hintereinander. Sowohl der Zeuge D. als auch der Erstbeklagte wollten nach links auf das Betriebsgelände der Firma U. abbiegen … . Beide Pkws hatten deshalb ihre Fahrgeschwindigkeit deutlich verlangsamt. Der Erstbeklagte hatte sich zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet, fuhr nur noch mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 km/h und hatte den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt. Der Kl. überholte das Fahrzeug des Zeugen D und setzte — für den Erstbeklagten erkennbar — auch zum Überholen des weiteren Fahrzeugs an. Er fuhr etwa mit 50 km/h. Der Kl. machte eine Vollbremsung und kam zu Fall, als der Erstbeklagte zum Abbiegen ansetzte; der Kl. rutschte mit seinem Motorrad gegen das Auto des Erstbeklagten.

Das LG hat der Klage nach Maßgabe einer Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Kl. statt-gegeben: Die Berufung des Kl. hatte keinen Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach dem fehlerfrei festgestellten Sachverhalt sind die Wertungen des LG und seine Bestimmung der Schadenshöhe, soweit diese von der Berufung überhaupt angegriffen wird, nicht zu beanstanden.

1. Die Haftungsquote ist vom LG im Ergebnis zu Recht auf Haftungsanteile von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Kl. bestimmt worden.

Den Erstbeklagten trifft ein Verschulden insoweit, als der Kl. für ihn erkennbar gewesen wäre. Bog er gleichwohl ab, so hat er § 9 Abs. 1 und Abs. 5 StVO verletzt. Der Kl. hin-gegen hat § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO verletzt. Eine unklare Verkehrslage, die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ein Überholen verbietet, liegt vor, wenn nach allen Umständen mit einem gefahrlosen Überholen nicht gerechnet werden darf (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 5 StVO Rdn. 34). Sie ist auch dann gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was der Vorausfahrende sogleich tun wird (KG NJW ‚1987, 1251). Dies ist dann der Fall, wenn bei einem vorausfahrenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird und dies der nachfolgende Verkehrsteilnehmer erkennen konnte. Dagegen liegt eine unklare Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug verlangsamt, selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet haben sollte. Ein solcher Fall lag nach den vom LG fehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht vor. Denn danach hatte der Erstbeklagte sich nicht nur zur Fahrbahnmitte nach links eingeordnet; er hatte auch seine Fahrgeschwindigkeit deutlich verringert und den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt. Hinzu kam, dass kurz hintereinander zwei Fahrzeuge vorausfuhren. Dann aber lag eine Verkehrslage vor, bei der dem Kl. das Überholen nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO untersagt war.

Die Bewertung der verschiedenen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge auf Seiten des Verletzten und des Ersatzpflichtigen gem. § 17 StVG ergibt in dieser Lage nach den Maßstäben der Rspr. Folgendes: Wer bei unklarer Verkehrslage überholt, haftet selbst grundsätzlich mindestens nach einer Quote von einem Drittel, so wenn der Abbieger zwar blinkt, vor dem Abbiegen aber die zweite Rückschau (§ 9 Abs. 1 Satz 4 StVO) unterlässt. Die Haftung des Überholers kann sich auf zwei Drittel (KG VerkMitt 1993, 59 = NZV 1993, 272) oder sogar auf drei Viertel (KG VerkMitt 1995, 92) steigern, wenn der Abbieger blinkt, sich zur Mitte einordnet, aber die zweite Rückschau versäumt und in dieser Situation nur rechts hätte überholt werden dürfen (KG Urteil vom 1. 2. 1999 — 12 U 8772/97). So lag es hier; wobei hinzukommt, dass dem Kl. zwei Fahrzeuge mit gleichermaßen erkennbarer Einordnung und Geschwindigkeitsreduzierung vorausfuhren. Auch das Überholen mehrerer vorausfahrender Fahrzeuge bei unklarer Verkehrslage wird in der Rspr. zum Anlass genommen, die Mithaftungsquote des Überholers zu erhöhen (vgl. OLG Hamm NZV 1993, 313).

Nach allem ist die Annahme des LG, die Mithaftung des Kl. belaufe sich auf zwei Drittel, jedenfalls nicht zu seinem Nachteil fehlerhaft (vgl. OLG Saarbrücken OLG-Report Saarbrücken 1999, 255 f.).

KG, Urteil vom 27. 7. 1998 – 12 U 3625/97 Vorfahrtsverstoß Anscheinsbeweis

Geltungsbereich einer Geschwindigkeitsbeschränkung an Baustelle; Kollision an unübersichtlicher Kreuzung
StVG § 17; StVO §§ 8, 40, 41

1. Ist zusammen mit dem Zeichen 123 zu § 40 StVO (Baustelle) durch Zeichen 274 eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h angeordnet, so gilt diese auch dann bis zum Ende des als solchen erkennbaren Baustellenbereichs, wenn sich vor dem Ende der Baustelle ein weiteres Zeichen 274 mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h befindet.

2. Bei einem Zusammenstoß zwischen zwei Kfz auf einer vorfahrtgeregelten Kreuzung oder Einmündung spricht regelmäßig der Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen, der daher darzulegen und zu beweisen hat, seine Sorgfaltspflichten nicht verletzt zu haben (Senat, DAR 1992, 433). (Leitsätze RA GG)

KG, Urteil vom 27. 7. 1998 – 12 U 3625/97

Zum Sachverhalt:
Der Zeuge P befuhr mit dem Taxi des Klägers gegen 0 Uhr die G.-Straße. Dort war ein mobiles Verkehrsschild „Baustelle“ (Zeichen 123) mit Geschwindigkeitsbeschränkung (Zeichen 274) auf 30 km/h aufgestellt. Am Beginn des Baustellenbereichs befand sich ein weiteres Zeichen 274 mit Beschränkung auf 50 km/h. Aus der am Ende der Baustelle von rechts einmündenden, durch Zeichen 205 („Vorfahrt gewähren“) untergeordneten F.-Straße wollte der Beklagte mit seinem Pkw nach links in die durch die Baustelle schwer einsehbare und verengte G.-Straße einbiegen. Als er etwa 1,5 m in diese eingefahren war, kam es zum Zusammenstoß mit dem klägerischen Taxi, wobei dessen Kollisionsgeschwindigkeit ca. 60 km/h betrug.
Das Landgericht hat der Schadensersatzklage des Taxiunternehmers nur auf der Basis einer Quote von ein Viertel stattgegeben. Das Kammergericht hat diese Haftungsverteilung bestätigt.

Aus den Gründen:
Der Kläger wendet sich mit seiner Berufung gegen die zu seinen Lasten festgesetzte (Mit-)Haftungsquote von drei Vierteln, weil das Landgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass der Zeuge P die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 100% überschritten habe, da – trotz Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vor der Einmündung auf 30 km/h – seine Kollisionsgeschwindigkeit mit 60 km/h festgestellt worden sei. Da nach der im Unfallzeitpunkt auf der G.-Straße vorhandenen Beschilderung eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gegolten habe, läge lediglich eine – haftungsrechtlich nicht relevante – Überschreitung um 10 km/h vor, so dass seine Mithaftung ausscheide.

Dieser Auffassung kann sich der Senat nicht anschließen:

aa) Für Kfz, die die G.-Straße in nördlicher Richtung befuhren, war die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h begrenzt im Bereich zwischen J.-Straße und F.-Straße ab dem Standpunkt des mobilen Baustellenschildes mit dem Zeichen 274 zu § 41 Absatz 2 Nr. 7 StVO (zulässige Höchstgeschwindigkeit „30“) unter dem Zeichen 123 zu § 40 StVO (Baustelle) bis zum Ende der Baustelle an der Einmündung der F.-Straße.
Soweit der Kläger darauf hinweist, dass sich vor der Unfallkreuzung ein weiteres gültiges Verkehrsschild (Zeichen 274) befunden habe, durch welches die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h festgesetzt sei, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Zwar trifft es ausweislich der vorliegenden Lichtbilder zu, dass direkt in Höhe des Beginns der Baustelle, des Bauzaunes und des Fußgängertunnels sich ein derartiges Schild befand. Dennoch ist dem Kläger vorzuwerfen, dass er bis zur Einmündung der F.-Straße die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h erheblich überschritten hat. Denn die Länge der durch Zeichen 274 angeordneten Verbotsstrecke wird ausschließlich durch § 41 Nr. 7 StVO bestimmt (vgl. Jagusch/ Hentschel, StraßenverkehrsR, 34. Aufl., § 41 StVO Rdnr. 246 zu Z 274, 276); danach endet die Verbotsstrecke in der Regel erst mit einem Aufhebungszeichen (Zeichen 278 bis 282 zu § 41 StVO).

Ist ein Aufhebungszeichen nicht vorhanden und ist auch die Länge der Verbotsstrecke nicht auf einem Zusatzschild angegeben, so gilt nach § 41 Nr. 7 StVO: „Das Ende einer Verbotsstrecke ist nicht gekennzeichnet, wenn das Streckenverbotszeichen zusammen mit einem Gefahrzeichen angebracht ist und sich aus der Örtlichkeit zweifelsfrei ergibt, von wo an die angezeigte Gefahr nicht mehr besteht“.
Da das Streckenverbot, die Geschwindigkeit von 30 km/h zu überschreiten, zusammen mit dem Gefahrzeichen 123 zu § 40 StVO (Baustelle) angebracht und das Ende der Baustelle im Straßenverlauf der G.-Straße eindeutig war, endete die Geschwindigkeitsbegrenzung erst am Ende der Baustelle, also an der Einmündung der F.-Straße.

Das Vorhandensein des weiteren Schildes 274 zu Beginn des eigentlichen Baustellenbereichs, das die Geschwindigkeit auf 50 km/h beschränkte, war rechtlich ohne Bedeutung, da die wirksam angeordnete Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h für den Bereich der Baustelle nicht zuvor oder gleichzeitig durch ein Aufhebungszeichen 278 bis 282 zu § 41 StVO aufgehoben war.

War für den Verkehrsteilnehmer durch die Art der Beschilderung eine Unklarheit entstanden, so hatte dieser im Zweifel das vorsichtigere Verhalten zu wählen (OLG Stuttgart, VRS 36, 134; Jagusch/ Hentschel, § 39 StVO Rdnr. 34). Der Fahrer des klägerischen Taxi durfte also – soweit er das Zeichen 274 „50 km/h“ wahrgenommen hat – nicht davon ausgehen, dass die durch Zeichen 123 erkennbar wegen der Baustelle angeordnete und auf die Baustelle bezogene Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h vor der Baustelle endete; jedenfalls mußte die Art der Beschilderung bei dem Taxifahrer eine Unklarheit hinsichtlich der zulässigen Höchstgeschwindigkeit aufkommen lassen, so dass er die vorsichtigere Fahrweise, also höchstens eine Geschwindigkeit von 30 km/h bis zum Ende der Baustelle, hätte wählen müssen.

b) … Nach Auffassung des Senats hat das Landgericht die Mithaftungsquote der Beklagten im Ergebnis zutreffend mit ¼ bemessen.

aa) … Der Vorfahrtberechtigte darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein Vorfahrtrecht von dem Wartepflichtigen beachtet wird. Dieser Vertrauensgrundsatz gilt auch gegenüber zunächst nicht sichtbaren Verkehrsteilnehmern (BGH, NJW 1985, 2757f.; Senat, Urt. v. 15. 12. 1986 – 12 U 2121/86). Ein verkehrswidriges Verhalten des Berechtigten beseitigt dessen Vorfahrt grundsätzlich nicht; er verliert deshalb seine Vorfahrt auch nicht durch eine überhöhte Geschwindigkeit (BGH, DAR 1986, 142; KG, DAR 1976, 240 sowie Urt. v. 25. 4. 1996 – 12 U 1631/95 – und v. 15. 6. 1998 – 12 U 2480/97; Jagusch/ Hentschel, § 8 StVO Rdnr. 30).
Wer die Vorfahrt zu beachten hat, darf nach § 8 Absatz 2 Satz 2 StVO nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den Vorfahrtberechtigten weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er dies nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, darf er sich nach § 8 Absatz 2 Satz 3 StVO vorsichtig in die Kreuzung oder Einmündung hineintasten, bis er Übersicht hat. „Hineintasten“ bedeutet zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit sofort anzuhalten (BGH, NJW 1985, 2757; Jagusch/ Hentschel, § 8 StVO Rdnr. 58). Der Wartepflichtige genügt seiner Pflicht nicht, wenn er die Schnittlinie der bevorrechtigten Straße überfährt und damit ganz oder teilweise die Fahrspur eines bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers sperrt (Senat, Urt. v. 14. 10. 1993 – 12 U 3283/92; v. 16. 3. 1995 – 12 U 6279/93 – sowie v. 11. 5. 1995 – 12 U 8398/93).

Bei einem Zusammenstoß zwischen zwei Kfz auf einer vorfahrtgeregelten Kreuzung oder Einmündung spricht regelmäßig der Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen (BGH, NJW 1982, 2668; 1976, 1317; KG, DAR 1984, 85f.;1976, 240), der daher darzulegen und zu beweisen hat, seine Sorgfaltspflichten nicht verletzt zu haben (Senat, DAR 1992, 433).

bb) Die Beklagten haben nicht bewiesen, dass der Beklagte zu 1) seinen besonderen Sorgfaltspflichten aus § 8 Absatz 2 StVO nachgekommen ist. … Nach der Klageerwiderung …, „fuhr der Beklagte zu 1) vorsichtig in die G.-Straße bis auf Sichthöhe hinein“ und hielt sein Fahrzeug dann an. Hieraus folgt ohne weiteres, dass der Beklagte zu 1) nicht zentimeterweise, also Zentimeter für Zentimeter, vorgerollt ist bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit, sofort anzuhalten, sich also nicht i.S. des § 8 Absatz 2 Satz 3 StVO „hineingetastet hat“. Dies hätte nämlich bedeutet, dass er mit seinem Wagen jeweils nur wenige Zentimeter langsam vorgerollt und dann wieder angehalten und dieses Fahrmanöver über einen längeren Zeitraum mehrmals wiederholt hätte (so auch OLG Düsseldorf, VersR 1976, 1179). …

c) Da von keiner der Parteien das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses nach § 7 Absatz 2 Satz 1 StVG geltend gemacht wird und ein solches Ereignis auch nicht in Betracht kommt, ist nach § 17 Absatz 1 StVG eine Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge unter Berücksichtigung der von beiden Kraftwagen ausgehenden Betriebsgefahr geboten; bei dieser Abwägung sind neben unstreitigen und zugestandenen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises anzuwenden sind (st. Rspr., vgl. BGH, VersR 1996, 513, 514 = NZV 1996, 231).
aa) Erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitungen des bevorrechtigten Verkehrs sind geeignet, zur Mithaftung des Vorfahrtberechtigten – in Sonderfällen auch zur Alleinhaftung – zu führen. Das Maß der Mithaftung hängt von der Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung sowie den weiteren Umständen des Einzelfalles ab (BGH, NJW 1984, 1962 = DAR 1984, 220; Senat, VerkMitt 1982, 94).
Konnte der Einbieger den Vorfahrtberechtigten, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Stadtverkehr um 50 km/h (100%) überschritt, nicht erkennen, weil dieser sich im Zeitpunkt des Einbiegens des Wartepflichtigen noch jenseits einer 195 m entfernten Kurve befand, haftet der Bevorrechtigte in vollem Umfang, wenn er dann etwa 16 m hinter der Einmündung auf das Fahrzeug des Wartepflichtigen von hinten auffährt (KG, DAR 1992, 433, 434). Überschreitet der erkennbar Bevorrechtigte die Höchstgeschwindigkeit um etwa 50 km/h (100%), kann dem wartepflichtigen Abbieger ein Ersatzanspruch nach einer Quote von 2/3 zustehen (BGH, NJW 1984 1962 = DAR 1984, 220).

Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von etwa 34 km/h oder 30 km/h (80 km/h statt zugelassener 50 km/h: Senat, VerkMitt 1982, 94, 95 oder um 25 km/h (Senat, Urt. v. 29. 11. 1994 – 12 U 1635/94) kommt ein Ersatzanspruch des wartepflichtigen Linksabbiegers nach einer Quote von ½ in Betracht.

Im Hinblick auf die bewiesene Geschwindigkeit des vorfahrtberechtigten Fahrzeuges des Klägers von jedenfalls 60 km/h statt zugelassener 30 km/h ist nach § 17 Absatz 1 StVG gegenüber dem sorgfaltswidrig abbiegenden Beklagten zu 1) eine Haftungsquote von ¾ gerechtfertigt, nicht aber eine höhere. Denn nach der Rechtsprechung des BGH, (NJW 1984, 1962) entlastet nicht bereits eine mehr als 60%ige Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den bevorrechtigten Kraftfahrer stets den Wartepflichtigen, weil dieser etwa darauf vertrauen dürfe, der Bevorrechtigte werde die Geschwindigkeit nicht in grober und außergewöhnlicher Weise überschreiten. Wenn im vorliegenden Fall eine Haftungsquote von ¾ zu Lasten des Bevorrechtigten – und nicht nur wie in der Entscheidung BGH, NJW 1984, 1962, von 2/3 – für angemessen gehalten wird, so ist dies vor dem Hintergrund der Umstände des vorliegenden Einzelfalles gerechtfertigt. So konnte der vorfahrtberechtigte Fahrer des Taxi des Klägers nicht auf für ihn grünes Ampellicht vertrauen.

Auch wenn es grundsätzlich geboten erscheint, der Vorfahrtverletzung als Unfallursache stärkeres Gewicht beizumessen als der Geschwindigkeitsüberschreitung, ist die nicht unerhebliche Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit im innerstädtischen Verkehr wenigstens gleichwertig, wenn sie unfallursächlich war (Senat, Urt. v. 31. 1. 1994 – 12 U 3121/92). Dies war nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen W der Fall, da der Fahrer des klägerischen Taxi bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 30 km/h das Taxi noch in einer Entfernung von etwa 4 m vor dem Kollisionsort hätte anhalten können.

Dem Beklagten zu 1) fällt der Vorwurf zur Last, langsam in den Einmündungsbereich vorgefahren zu sein, bis er Sicht nach links gewinnen konnte, obwohl diese Fahrweise im Hinblick auf die Pflichten aus § 8 Absatz 2 StVO verkehrswidrig war, da er dadurch für den Fahrer eines herannahenden vorfahrtberechtigten Fahrzeuges verhältnismäßig plötzlich in dessen Fahrstreifen fuhr und diesen teilweise blockierte. In einem derartigen Fall ist – ohne überhöhte Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten – die Haftung des Wartepflichtigen zu 100% auch dann gegeben, wenn die Sicht auf die Kreuzungsecke und den bevorrechtigten Verkehr durch einen Bauzaun verdeckt war (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 1976, 1179).

Im Hinblick auf die erhebliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um wenigstens 30 km/h (100 %) durch den Fahrer des klägerischen Taxi hält auch der Senat den Mithaftungsanteil des klägerischen Fahrzeuges für dreimal so hoch wie den des Beklagten zu 1). Daher ist die vom Landgericht festgesetzte Quote von ¾ zu ¼ zu Lasten des Klägers angemessen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Straßenverhältnisse (Kopfsteinpflaster) und der Witterung (Nieselregen) sowie der Dunkelheit.

Für den Mithaftungsanteil der Beklagten ist auch die Betriebsgefahr des Mazda des Beklagten zu 1) zu berücksichtigen, der unter Verletzung des Vorfahrtrechtes des klägerischen Taxi etwa 1,5 m in die durch eine Baustelle ohnehin schon stark eingeengte Vorfahrtstraße langsam vorgefahren ist; allein die Betriebsgefahr schlägt sich zu Lasten des Wartepflichtigen in erheblichem Umfang nieder (vgl. OLG Hamm, NZV 1996, 69: 50% Haftung des wartepflichtigen Pkw aus reiner Betriebsgefahr gegenüber einem bevorrechtigten Motorrad mit Geschwindigkeitsüberschreitung um 20%; OLG Schleswig, NZV 1994, 439: 30% Haftung der wartepflichtigen Zugmaschine aus reiner Betriebsgefahr bei Sichtbehinderung durch Nebel gegenüber bevorrechtigtem Pkw mit Geschwindigkeit von 64 km/h statt zugelassener 50 km/h).

Die Beklagten können sich für ihre Auffassung, sie bräuchten für den Schaden des Klägers nicht, auch nicht zu 25%, zu haften, auch nicht auf die Entscheidung des Senats vom 22. 6. 1992 (DAR 1992, 433) berufen; denn dort wurde entschieden, dass ein Wartepflichtiger nicht damit zu rechnen braucht, dass bei Regen und Dunkelheit sich ein Vorfahrtberechtigter mit 100 km/h statt zugelassener 50 km/h von rechts nähern und dann von hinten auffahren würde, der im Zeitpunkt des Einbiegens des Wartepflichtigen nach links noch nicht sichtbar war, weil er sich noch jenseits einer 195 m entfernten Kurve befand. Dieser Sachverhalt ist mit dem streitgegenständlichen Fall offensichtlich nicht vergleichbar.

Fahrverbot für erlaubnisfreie Fahrzeuge

Oberverwaltungsgericht
Rheinland-PfalzBeschluss

In dem Verwaltungsrechtsstreit

……..

 

– Antragsteller und Beschwerdeführer –

 

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Dres. Damm und Busch, Westliche Ringstraße 8, 67227 Frankenthal,

 

gegen

 

den Rhein-Pfalz-Kreis, vertreten durch den Landrat, Europaplatz 5, 67063 Ludwigshafen,

– Antragsgegner und Beschwerdegegner –

 

 

wegen Fahrerlaubnis
hier: aufschiebende Wirkung

 

hat der 10. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der Beratung vom 25. September 2009, an der teilgenommen haben

Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts Steppling
Richter am Oberverwaltungsgericht Möller
Richterin am Verwaltungsgericht Jahn-Riehl

 

beschlossen:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 20. August 2009 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 4. August 2009 wiederhergestellt.

Der Antragsgegner hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,– € festgesetzt.

 

G r ü n d e

Die Beschwerde ist zulässig und hat aus den vom Antragsteller dargelegten Gründen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hätte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 4. August 2009 gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wieder­herstellen müssen. Das gegen den Antragsteller ausgesprochene Verbot, fahr­erlaubnisfreie Fahrzeuge (Mofa und Fahrrad) zu führen, erweist sich bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, weil der Antragsgegner den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht ausreichend beachtet hat. Ein überwiegendes öffentliches Interesse am sofortigen Vollzug der offensichtlich rechtswidrigen Verbotsverfügung besteht nicht.

Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 Fahrerlaubnisverordnung – FeV – hat die Fahrer­laubnisbehörde das Führen von fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen oder Tieren zu untersagen, zu beschränken oder die erforderlichen Auflagen anzuordnen, wenn sich jemand als ungeeignet oder nur noch bedingt geeignet hierzu erweist. Die fehlende Eignung des Antragstellers zum Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge ist derzeit nicht erwiesen. Der Antragsgegner schließt auf die Ungeeignetheit des Antragstellers, weil er kein medizinisch-psychologisches Gutachten über seine Fahreignung vorgelegt hat; dieser Schluss ist aber nicht zulässig, weil das medizinisch-psychologische Gutachten von ihm zu Unrecht gefordert wurde.

Als Rechtsgrundlage für die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung gegenüber dem Antragsteller kommt hier, worauf sich der Antrags­gegner auch stützt, § 3 Abs. 2 FeV i.V.m. § 13 Satz 1 Nr. 2 c) FeV in Betracht. Gemäß § 3 Abs. 2 FeV finden die §§ 10 bis 14 FeV entsprechend Anwendung, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Führer eines Fahrzeugs oder Tieres zum Führen ungeeignet oder nur bedingt geeignet ist. Welche Tat­sachen die Eignung einer Person, mit nicht fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugen oder Tieren am Straßenverkehr teilzunehmen, in Frage stellen können, ist im Straßenverkehrsgesetz oder in der Fahrerlaubnisverordnung nicht näher geregelt. Auch hier gilt zwar grundsätzlich der Eignungsbegriff des § 2 Abs. 4 StVG, wonach geeignet ist, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anfor­derungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat (vgl. Hentschel, Straßen­verkehrsrecht, 40. Auflage 2009, § 3 Rdnr. 1 mit Hinweis auf die Begründung zur Verordnung, VkBl 1998, 1061). Hieraus ergibt sich aber noch nicht, welche körperlichen oder geistigen Einschränkungen und Erkrankungen die Eignung zum Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge ausschließen.

Anlage 4 zur FeV, die regelhaft solche Erkrankungen und Mängel, insbesondere den Alkoholmissbrauch definiert, kann hier nicht herangezogen werden, da sie sich speziell auf die Eignung von Personen zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Weil die von § 3 Abs. 2 FeV geforderten Tatsachen erst die entsprechende Geltung der §§ 10 bis 14 FeV und der hierzu ergangenen Anlagen eröffnen, kann das Vorliegen solcher Tatsachen nicht schon mit den Voraus­setzungen dieser Regelungen begründet werden (vgl. zur Problematik der Rechtsfolgenverweisung auch VG Sigmaringen, Beschluss vom 28. Januar 2002 – 4 K 2083/01 -, juris; gegen die ungeprüfte Übernahme der Anforderungen auch Geiger, Verbot des Führens nicht fahrerlaubnispflichtiger Fahrzeuge, SVR 2007, 161; für eine Anwendung der Vorschriften für Fahrerlaubnisinhaber Bayerischer VGH, Beschlüsse vom 11. September 2008 – 11 CS 08.1188 – und vom 27. März 2006 – 11 ZB 06.41 -, beide juris).

Allerdings kann eine Fahrt mit dem Fahrrad im öffentlichen Straßenverkehr mit einer Blutalkoholkonzentration von 2,33 ‰eine Tatsache darstellen, welche die Eignung einer Person zum Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge berührt. Auch bei der Nutzung von Mofas und Fahrrädern beeinträchtigt die Wirkung erheblicher Alkoholmengen die Fahrsicherheit und das Reaktionsvermögen und damit die sichere Teilnahme am Straßenverkehr. Ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ geht die strafgerichtliche Rechtsprechung bei einem Fahrradfahrer von absoluter Fahruntüchtigkeit und einer gemäß § 316 StGB strafwürdigen abstrakten Gefährdung des Straßenverkehrs aus (vgl. Hentschel, a.a.O., § 316 StGB Rdnrn. 1, 17). Nach allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnissen weist das Erreichen von Blutalkoholkonzentrationen ab 1,6 ‰ auf deutlich normabweichende Trink­gewohnheiten und eine ungewöhnliche Giftfestigkeit hin, die mit der Unfähigkeit zu einer realistischen Einschätzung der eigenen Alkoholisierung und der dadurch ausgelösten Verkehrsrisiken verbunden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 – 3 C 32.07 -, juris). Diese allgemeinen Erkenntnisse zu den Anzeichen und Folgen eines übermäßigen Alkoholkonsums gelten nicht nur für Kraftfahrer, sondern vom Grundsatz her auch für Personen, die ausschließlich mit einem Fahrrad oder einem Mofa am Straßenverkehr teilnehmen. Auch bei ihnen besteht im Fall eines chronisch überhöhten Alkoholkonsums und der Gewöhnung an die Giftwirkung des Alkohols die Gefahr, dass sie ihre Fähigkeit zur sicheren Verkehrsteilnahme nicht mehr realistisch einschätzen können und deshalb wiederholt unter erheblichem Alkoholeinfluss fahren werden. Der Antragsteller hat die Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰, die diese Bedenken im Regelfall begründet, noch deutlich überschritten.

Liegen damit Tatsachen vor, die Zweifel an seiner Fahreignung als Fahrrad- und Mofafahrer begründen können, ist § 13 Satz 1 Nr. 2 c) FeV grundsätzlich anwendbar. Nach dieser Vorschrift ordnet die Fahrerlaubnisbehörde an, dass ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn ein Fahrzeug im Straßenverkehr mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ oder mehr geführt wurde. Der Antragsteller hat ein Fahrzeug, nämlich ein Fahrrad, mit einer Blut­alkoholkonzentration von 2,33 ‰ geführt. Allerdings gilt § 13 FeV im Zusammen­hang mit fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen nicht unmittelbar, sondern nur entsprechend. Dies bedeutet, dass die Regelung hier nicht schematisch angewendet werden darf, sondern entsprechend der Besonderheit, dass ausschließlich eine Verkehrsteilnahme mit einem fahrerlaubnisfreien Fahrzeug inmitten steht.

Die Teilnahme mit fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen am öffentlichen Straßen­verkehr, insbesondere mit einem Fahrrad, fällt in den Kernbereich des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz – GG -. Die Fortbewegung mit diesem Verkehrsmittel ist grundsätzlich voraus­setzungslos allen Personen, auch kleineren Kindern und alten Menschen, erlaubt und hat für den Personenkreis, der nicht über eine Fahrerlaubnis verfügt, ganz wesentliche Bedeutung für ihre persönliche Bewegungsfreiheit. Fahrerlaubnisfreie Fahrzeuge beeinträchtigen überdies die Sicherheit des Straßenverkehrs und anderer Verkehrsteilnehmer schon wegen ihrer erheblich geringeren Geschwin­digkeit typischerweise nicht im gleichen Ausmaß wie Kraftfahrzeuge (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 1979 – 2 BvL 7/78 -, juris). Entsprechend ihrer unterschied­lichen Betriebsgefahren stuft der Gesetzgeber deshalb auch selbst die Zulassung der verschiedenen Fahrzeuge zum Straßenverkehr ab, indem er die Nutzung von Kraftfahrzeugen einer Fahrerlaubnispflicht, die Nutzung von Mofas einer Prüf­berechtigung unterwirft und alle sonstigen Fahrzeuge ohne weiteres zulässt. Er nimmt damit die Gefahr, dass unerkannt ungeeignete oder unfähige Personen diese erlaubnisfreien Verkehrsmittel benutzen, zunächst hin und ordnet sie grund­sätzlich dem allgemeinen Lebensrisiko der Verkehrsteilnehmer zu. Jede Einschränkung dieser Grundfortbewegungsarten muss diese Wertentscheidung des Gesetzgebers beachten und in ihrem Rahmen den Grundsatz der Verhältnis­mäßigkeit wahren. Dies gilt bereits für Maßnahmen der Verkehrsbehörde im Vorfeld einer Beschränkung oder eines Verbots, namentlich für die gemäß § 13 FeV vorgesehenen Maßnahmen zur Klärung der Fahreignung.

Von den hiernach möglichen Aufklärungsmaßnahmen stellt die medizinisch-psychologische Untersuchung aber den schwerwiegendsten Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dar. Sie ist mit der Erhebung und Offen­legung höchstpersönlicher Daten und Informationen in einer verhörähnlichen Situation verbunden. Schon bei Fahrerlaubnisinhabern und -bewerbern muss die Anordnung dieser Untersuchung das Übermaßverbot beachten und das Spannungsverhältnis berücksichtigen, das zwischen dem Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs einerseits und dem Interesse des Fahrerlaubnis­inhabers andererseits besteht, von Gefahrerforschungseingriffen verschont zu bleiben, die mit erheblichen Belastungen für ihn verbunden sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. Juni 1993 – BvR 689/92 -, NJW 1003, 2365 und vom 20. Juni 2002 – 1 BvR 2062/96 -, NJW 2002, 2378, beide zitiert aus juris).

§ 13 Satz 1 Nr. 2 c) FeV verlangt diese Maßnahme gegenüber Fahrerlaubnis­inhabern und -bewerbern bei einer Teilnahme am Straßenverkehr – auch mit einem Fahrrad – ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ pauschal und ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzelfalls, weil bei einem Fahrerlaubnis­inhaber, der beim Fahrradfahren nicht zwischen Alkoholkonsum und Fahren trennen konnte, jederzeit damit gerechnet werden muss, dass er auch mit einem Kraftfahrzeug fährt und damit die Gefährdung für die Verkehrssicherheit noch steigert (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 – 3 C 32/07 -, NJW 2008, 2601, juris). Diese gesteigerte Gefährdung der Verkehrssicherheit kann aber nicht eintreten, wenn der Betroffene überhaupt nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis ist, sondern ausschließlich Fahrrad fährt. Zwar bedeutet die Teilnahme am Straßen­verkehr unter erheblicher Alkoholisierung auch mit einem Fahrrad eine Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs. Das Gefahrenpotential für andere Verkehrs­teilnehmer ist hier indessen wegen der allgemein geringeren Betriebsgefahren eines Fahrrades deutlich niedriger einzuschätzen als beim Gebrauch eines Kraftfahrzeugs. Bei Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss muss aufgrund der heutigen Verkehrsdichte und der Schnelligkeit des Verkehrsmittels jederzeit damit gerechnet werden, dass sich die Gefahr eines schweren Unfalls tatsächlich realisiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dabei zu erheblichen Schädigungen von Gesundheit und Eigentum anderer Verkehrsteil­nehmer kommt, ist hoch. Dies ist bei Fahrradfahrern wesentlich anders zu beurteilen: Fahrradfahrer benutzen nicht die Autobahnen oder vergleichbar ausgebaute Schnellstraßen mit einer hohen Verkehrsdichte. Innerorts – zumal im ländlichen Raum – fließt der gesamte Straßenverkehr langsamer; auf Fahrrad- und Wirtschaftswegen ist der Begegnungsverkehr mit Kraftfahrzeugen nahezu ausgeschlossen und mit sonstigen Verkehrsteilnehmern wie anderen Fahrrad­fahren oder Fußgängern eher gering. Ein betrunkener Fahrradfahrer kann zwar ebenfalls einen schweren Unfall im Straßenverkehr verursachen, beispielsweise wenn motorisierte Verkehrsteilnehmer wegen seines unkontrollierten Verhaltens unvorhersehbar ausweichen müssen und mit anderen Fahrzeugen kollidieren (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 1. April 2008 – 12 ME 35/08 -, juris; Bayerischer VGH, a.a.O.). Solche folgenschweren Ereignisse stellen aber doch die Ausnahme dar. Die pauschalierende Betrachtungsweise des § 13 Satz 1 Nr. 2 c) FeV lässt sich nach alledem gegenüber Personen, die lediglich fahrerlaubnisfreie Fahrzeuge oder Tiere führen, nicht rechtfertigen.

Vor diesem Hintergrund setzt die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung entsprechend § 13 Satz 1 Nr. 2 c) FeV gegenüber einem Fahrrad­fahrer, der nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis für Kraftfahrzeuge ist, zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit voraus, dass sich eine naheliegende und schwer­wiegende, an die Risiken bei auffällig gewordenen Fahrerlaubnisinhabern heranreichende Gefährdung des öffentlichen Straßenverkehrs durch den Radfahrer aus den konkreten Umständen des Einzelfalls herleiten lässt. Daran fehlt es hier.

Der Antragsteller ist zwar mit einer außergewöhnlich hohen Blutalkoholkon­zentration von 2,33 ‰ Fahrrad gefahren, es handelte sich dabei aber um seine erstmalige Auffälligkeit nach – wie er unwidersprochen vorträgt – einer privaten Feier in der Nacht. Er hat bei seiner Fahrt zudem den Fahrradweg benutzt und keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet. Es gibt derzeit keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass er regelmäßig auch am Tag zu Zeiten mit höherer Verkehrsfrequenz betrunken Fahrrad fährt und durch eine unkontrollierte Fahr­weise auf öffentlichen Straßen eine ständige Gefahr für andere Verkehrsteil­nehmer und die allgemeine Verkehrssicherheit darstellt. Nach den Feststellungen der Polizei und des untersuchenden Arztes vermittelte er bei dem Vorfall vom 30. Dezember 2008 den Eindruck starker Alkoholisierung, was trotz der hohen Blutalkoholkonzentration zu seinen Gunsten, nämlich eher gegen eine besonders ausgeprägte Alkoholgewöhnung spricht. Andere Drogen als Alkohol, insbesondere harte Drogen, denen der Gesetz- und Verordnungsgeber ein noch höheres Gefährdungspotential zuweist, sind nicht im Spiel. Der Antragsteller ist schon 62 Jahre alt, im Vorruhestand und fährt nach seinen Angaben vornehmlich auf Fahrradwegen und Feldwegen zur sportlichen Betätigung sowie zum Einkaufen auf den Markt mit einem Damen-City-Bike. Eine Prüfberechtigung für Mofas besitzt er nicht und er beabsichtigt auch nicht, ein solches Fahrzeug zu führen. Schließlich ist er nach seinem unwiderlegten Vortrag für sein Fehlverhalten zum ersten Mal mit einem Strafbefehl belegt worden, so dass davon ausgegangen werden darf, dass schon der Eindruck der erheblichen Geldstrafe von 400,– € ihm als Mahnung für sein zukünftiges Verhalten gereicht. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände erscheinen bei lebensnaher Betrachtung die von ihm aus­gehenden Gefahren für die Verkehrssicherheit und für andere Verkehrsteilnehmer derart fernliegend, dass sie die schwerwiegenden Belastungen mit einer medizinisch-psychologische Untersuchung nicht rechtfertigen können.

Darüber hinaus ist die Verbotsverfügung des Antragsgegners aber auch aus anderen Gründen rechtswidrig:

Gemäß § 11 Abs. 8 FeV darf die Verkehrsbehörde zwar aus der Weigerung, ein Gutachten vorzulegen, grundsätzlich auf die Nichteignung des Betroffenen schließen. Aber auch diese Vorschrift ist gemäß § 3 Abs. 2 FeV nur entsprechend anwendbar. Die Verkehrsbehörde muss hier nach Auffassung des Senats im Einzelfall abwägen, ob die vom Betroffenen dargelegten Gründe für seine Weigerung nachvollziehbar sind und deshalb ausnahmsweise den Schluss auf seine Nichteignung verbieten. Der Antragsteller hat im Schreiben vom 27. Juli 2009 seine Gründe ausdrücklich dargelegt, aus denen er die medizinisch-psychologische Untersuchung nicht durchführen will. Er hat hierfür insbesondere die Kosten des Gutachtens angeführt und auf deren Unangemessenheit mit Blick auf die ausschließliche Nutzung eines Fahrrades verwiesen. Diesen Einwänden kann nicht pauschal entgegengehalten werden, dass der Gesetzgeber dem Verkehrsteilnehmer auch sonst die Kosten zumutet, die mit dem Halten und dem Führen von Fahrzeugen verbunden sind (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 12. März 1985 – 7 C 26/83 -, BVerwGE 71, 93, zitiert aus juris; Beschluss des Senats vom 21. November 2008 – 10 B 11094/08.OVG -). Dieser Grundsatz bezieht sich nämlich auf die Kosten, die bei der Nutzung eines Kraftfahrzeugs schon für den Erwerb der Fahrerlaubnis und sodann für Anschaffung und Unterhaltung eines Kraftfahrzeugs in Form von Versicherungsprämien, Benzin und Reparaturen regelmäßig anfallen. Damit ist die Situation eines Fahrradfahrers nicht vergleich­bar. Bei ausschließlicher Nutzung eines Fahrrads reichen die Kosten für das Gutachten an den Fahrzeugwert heran oder übersteigen diesen sogar. Der Antragsteller hat sich in dem genannten Schreiben ausdrücklich bereit erklärt, an anderen, weniger kostenintensiven Maßnahmen zur Klärung seiner Fahreignung mitzuwirken. Auch diese Bereitschaft spricht im vorliegenden Fall dagegen, allein aus der Nichtvorlage des medizinisch-psychologischen Gutachtens ohne weitere Würdigung seiner Einlassungen pauschal auf eine Nichteignung wegen Uneinsichtigkeit und fehlendem Verantwortungsbewusstsein zu schließen.

Ferner unterliegt die Anordnung von Maßnahmen gemäß § 3 Abs. 1 FeV selbst bei erwiesener Nichteignung des Betroffenen dem Auswahlermessen der Behörde. Zwar muss sie in diesem Fall tätig werden, die Auswahl der von § 3 Abs. 1 FeV genannten Maßnahmen (Verbot, Beschränkungen oder Auflagen) liegt aber in ihrem pflichtgemäßen Ermessen, wobei sie auch hier den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Vorrang des jeweils geeigneten milderen Mittels zu beachten hat (vgl. Hentschel, a.a.O., Rdnr. 8, 9; BayVGH vom 27. März 2006, a.a.O.; OVG Lüneburg, a.a.O; OVG Bremen, Beschluss vom 9. Januar 1990, NJW 1990, 2081). Dieses Auswahlermessen hat der Antragsgegner ebenfalls nicht ausgeübt. Im Bescheid vom 4. August 2009 finden sich keine Erwägungen zu möglichen milderen Mitteln als dem ausgesprochenen Fahrverbot, vielmehr geht der Antragsgegner offenbar davon aus, dass dem Antragsteller das Führen fahr­erlaubnisfreier Fahrzeuge zwingend zu unter­sagen ist. Eine solche Ermessens­reduktion kann der Senat indessen nicht erkennen. Nach einer einzigen nächtlichen Auffälligkeit ist vielmehr vordringlich an ein zeitlich beschränktes Verbot zu denken oder an die Auflage eines Gesprächs mit einem Verkehrs­psychologen. Als wesensgleiches Minus zu dem ausgesprochenen Verbot kommt zunächst auch die Androhung desselben für den Wiederholungfall in Frage. Zu beachten ist hierbei nämlich, dass ein Verbot zum Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge nicht nur erheblich in das Grundrecht der Handlungsfreiheit eingreift, sondern zugleich nahezu nicht kontrollierbar ist, sich der Ertrag dieser Maßnahme für die Verkehrssicherheit also faktisch als gering erweist. Die Androhung des Verbots als eindringliche Warnung an den Betroffenen bleibt in ihrer Wirkung im Hinblick auf die Verkehrssicherheit hinter diesem ohnehin geringen Ertrag kaum zurück.

Schließlich begegnet das gegenüber dem Antragsteller verhängte Verbot, fahr­erlaubnisfreie Fahrzeuge zu führen, auch im Hinblick auf den Gleichbehandlungs­grundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG rechtlichen Bedenken. In diesem Zusam­menhang weist er nämlich zu Recht darauf hin, dass – wie es auch den bisherigen Erfahrungen des Senats entspricht – einem Fahrerlaubnisinhaber, dem wegen einer Alkoholproblematik die Fahrerlaubnis entzogen wird, jedenfalls in der Regel nicht gleichzeitig das Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge verboten wird. Der Antragsteller wird damit ohne erkennbaren Grund schlechter gestellt als die Mehr­zahl der Fahrerlaubnisinhaber, die in vergleichbarer Weise wie er im Straßen­verkehr auffällig geworden sind, denen aber die Nutzung von Fahrrädern erlaubt bleibt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 GKG.